
Beim zweiten Teil von ,,0451 im Dialog mit´´ haben wir uns den neuen Geschäftsführer vom Jobcenter Lübeck, Christian Saar, ausgesucht und ihm gebeten, unsere Fragen per Mail zu beantworten
Seit knapp 4 Wochen sind Sie der Chef des Jobcenters. Was haben Sie sich für Ihre Amtszeit vorgenommen?
Die ersten vier Wochen waren für mich sehr intensiv und ich konnte bereits viele Partner:innen des Jobcenters kennenlernen. Ich habe einen sehr positiven Eindruck von den sozialen Strukturen in Lübeck und freue mich nun sehr darauf, meine Expertise in Lübeck mit einzubringen. Natürlich möchte ich gerne die erfolgreiche Arbeit der letzten Jahre fortsetzen und gemeinsam mit den beteiligten Akteuren auch anstehende Themen weiterentwickeln. Ein besonderer Schwerpunkt wird dabei auf der Einführung des Bürgergelds liegen.
Welche Gruppe macht Ihnen besondere Sorgen? Wo sollen Ihre Anstrengungen noch größer werden?
Grundsätzlich befinden sich alle Menschen, die auf Unterstützung des Jobcenters angewiesen sind, in einer schwierigen Lebenssituation. Wichtig ist es, individuell mit den Menschen ins Gespräch zu kommen und Möglichkeiten zu erarbeiten, wie eine von Arbeitslosengeld unabhängige Teilhabe am gesellschaftlichen Leben erreicht werden kann. Dabei ist die Aufnahme einer Ausbildung oder einer Arbeit immer das langfristig vorrangige Ziel. Aber auch auf dem Weg in Beschäftigung kann man bereits Teilhabe ermöglichen. In den folgenden Monaten werden uns die Auswirkung der Corona-Pandemie weiter beschäftigten. Dabei erfordern in der Tat drei Personengruppen besondere Aufmerksamkeit: Zum einen haben Frauen in der Pandemie eine besondere Last getragen und beispielsweise häufig die Kinderbetreuung übernommen. Wir müssen daher eine weitere Verbesserung der Chancengleichheit für Frauen und Männer erreichen. Dieses ist im Übrigen auch wichtig, weil die Potenziale der Frauen (insbesondere der Alleinerziehenden) einen zusätzlichen Beitrag zur Deckung des Fachkräftebedarfs leisten können. Ein besonderes Augenmerk sollte sich auch auf die Situation der jungen Lübecker:innen richten. Durch die Einrichtung der Jugendberufsagentur mit den Partnern aus der Hansestadt Lübeck, der Agentur für Arbeit und dem Jobcenter haben wir dafür eine sehr gute Grundlage. Wir können es uns nicht erlauben, dass wir junge Erwachsende an der Schwelle zwischen Schule und dem Einstieg in das Erwerbsleben verlieren. Gerade weil in den letzten zwei Jahren beispielsweise wenig Ausbildungsmessen stattfinden konnten und auch Beratungsangebot nicht vollständig zur Verfügung standen, müssen wir alles daransetzen, dass keine „Corona-Jahrgänge“ entstehen. Das dritte Augenmerk richte ich auf die geflüchteten Menschen aus der Ukraine, die seit dem 01. Juni durch die Jobcenter betreut werden. In den nächsten Monaten sollen möglichst viele der geflüchteten Menschen die Möglichkeit erhalten, an einem Sprachkurs oder einem Integrationskurs teilzunehmen. Denn Sprache ist der Schlüssel zur Integration.
Wie viele Menschen beziehen derzeit Leistungen des Jobcenters?
Die Zahl der Menschen, die Leistungen des Jobcenters beziehen, unterliegt verschiedenen Schwankungen. Die letzten verfestigten Daten stammen aus Mai 2022. Zu diesem Zeitpunkt waren 11.615 sogenannten Bedarfsgemeinschaften mit 22.057 Menschen im Leistungsbezug des Jobcenters Lübeck. Gegenüber dem Vorjahr handelt es sich um eine Reduzierung von 10,6 Prozent. Durch die Übernahme der Ukrainer:innen wird in den folgenden Monaten der Rückgang zum Vorjahr zwar geringer ausfallen, aber im Trend erhalten bleiben. Dieses ist eine sehr gute Nachricht, denn sie belegt, dass der Arbeitsmarkt in Lübeck auch weiterhin Arbeitskräfte benötigt und es viele Unternehmen gibt, die bereit sind auch arbeitslosen Menschen eine Chance zu geben.
Wenn Sanktionen greifen, kann das für Menschen dramatisch sein. Wie stehen Sie generell zum Prinzip?
Die Sanktionen wurden seit der Einführung des Sozialgesetzbuches II im Jahr 2005 diskutiert. Im Jahr 2019 wurde durch das Bundesverfassungsgericht ein Urteil dazu getroffen. Nach den aktuellen Informationen wird das Bürgergeld die Sanktionen entsprechend dem Urteil neu regeln. Wichtig ist mir die Einordnung von Sanktionen mit dem folgenden Beispiel: Im Jahr 2021 musste das Jobcenter Lübeck bei 378 Leistungsempfangenden eine Minderung festsetzen (weil zum Beispiel Termine nicht wahrgenommen oder eine zumutbare Arbeit oder Qualifizierung grundlos abgelehnt wurde). Die betroffenen 378 Leistungsempfangenden entsprechen lediglich 1,8 Prozent aller Kundinnen und Kunden des Jobcenters Lübeck. Das bedeutet im Umkehrschluss, dass über 98 Prozent aller Kundinnen und Kunden nicht von den Sanktionen betroffen sind. Ich denke, daran wird deutlich, dass in unserem Jobcenter stets den Fokus darauf liegt, auf Augenhöhe mit den Menschen zu kommunizieren. Wir möchten gemeinsam mit den Kundinnen und Kunden Integrationsstrategien entwickeln und umsetzen.
Sollte es einen öffentlich geförderten Beschäftigungssektor geben?
Dieses ist eine politische Entscheidung. Aus meiner Sicht verfügt das Jobcenter Lübeck über einen großen Instrumentenkoffer mit unterschiedlichsten Unterstützungsangeboten, sodass wir für arbeitslose Menschen ganz individuelle Angebote machen können. Gerade das vor drei Jahren eingeführte Teilhabechancengesetz – mit dem Menschen, die bereits länger als zwei oder sogar fünf Jahre arbeitslos sind, mittels hoher Zuschüsse für den Arbeitgeber bei der Arbeitsaufnahme unterstützt werden können – war in Lübeck sehr erfolgreich.
Die Zahl der Langzeitarbeitslosen war im vergangenen Jahr deutlich gestiegen. Wird diese Kurve in Zeiten der Rezession noch steiler nach oben gehen?
Die Anzahl der Langzeitarbeitslosen ist in der Corona-Pandemie in der Tat angestiegen. Das ist auch darauf zurückzuführen, dass die Maßnahme- und Bildungsträger in den Lockdowns keine Qualifizierungen durchführen konnten. Natürlich konnten Bildungsangebote teilweise auch digital stattfinden, aber längst nicht alle: Um beispielsweise einen LKW-Führerschein oder einen Schweißerschein zu erwerben, ist die persönliche Präsenz selbstverständlich unabdingbar. Diese Qualifizierungen sind jedoch in den letzten Monaten wieder vollständig gestartet. Die Langzeitarbeitslosigkeit geht seit einigen Monaten wieder deutlich zurück. Im August 2022 wurden im Jobcenter 3.318 langzeitarbeitslose Menschen betreut, das sind 319 oder 8,8 Prozent weniger als vor einem Jahr. Inwieweit die aktuelle Situation eine Auswirkung auf den Arbeitsmarkt haben wird, kann ich derzeit noch nicht sicher prognostizieren. Zurzeit sind viele Branchen eher durch der Fachkräftemangel gefordert.
Der Mangel an Fachkräften und Auszubildenden ist enorm. Gibt es Aussicht auf Besserung?
Das Jobcenter kann sicherlich einen Beitrag zur Behebung des Fachkräftemangels leisten. Dabei kommt der beruflichen Weiterbildung eine besondere Rolle zu, um den Qualifikationsanforderungen der Unternehmen gerecht zu werden. Das Bürgergeld hat dazu aus meiner Sicht zwei wichtige Weiterentwicklungen. Zum einen sollen arbeitslose Menschen die gleiche Zeit – also im Regelfall 3 Jahre – zum Erwerben eines Berufsabschlusses erhalten, bisher waren dafür nur 2,5 Jahre möglich. Daneben sollen arbeitslose Menschen, die durch das Jobcenter betreut werden, einen monatlichen Zuschuss von bis 150,00 Euro erhalten, wenn sie bereit sind einen neuen oder auch einen ersten Berufsabschluss zu erwerben. Ich finde, das ist eine gute Entwicklung und würdigt auch die Bedeutung von Weiterbildung für Menschen in der Arbeitslosigkeit.
Was ist aktuell die größte Herausforderung für das Jobcenter?
In den letzten Monaten mussten wir uns sehr schnell auf die Übernahme der geflüchteten Menschen aus der Ukraine einstellen. Dank der guten Zusammenarbeit mit der Hansestadt Lübeck ist dieses auch sehr gut im Interesse der Geflüchteten gelungen. Die Energiekrise wird sich sicherlich auch auf die Arbeit im Jobcenter auswirken. Eine besondere Herausforderung wird aber die Einführung des Bürgergeldes sein. Zusammen mit meinen Kolleginnen und Kollegen möchte ich diesen Wandel bestmöglich für die Bürgerinnen und Bürger begleiten und umsetzen.
Was wünschen Sie sich für die Zukunft?
Ich wünsche mir sehr, dass negative Stereotype über arbeitslose Menschen endlich überwunden werden. Leider begegnen mir diese in vielen Gesprächen. Ich habe in meiner beruflichen Laufbahn sehr viele Menschen kennenlernen dürfen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen und sehr häufig unverschuldet arbeitslos geworden sind. Ich appelliere dafür, nicht permanent defizitorientiert zu schauen, sondern den Blick in Richtung Stärken zu lenken. Auf dieser Basis können geeignete Perspektiven für eine erfolgreiche Integrationsstrategie erarbeitet werden.
Wir bedanken und bei Herrn Christian Saar und beim Jobcenter Lübeck für die Beantwortung unserer Fragen.
Foto: (c) Jobcenter Lübeck